Die Kinder sind krank, die Arztpraxen übervoll – doch es fehlen immer mehr Medikamente, um den kleinen Patienten zu helfen: erst Fiebersäfte, nun auch Antibiotika und Inhalativa. Das Praxisnetz der Kinder- und Jugendärzte Münster e.V. und der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) warnen gemeinsam, dass sich das Problem der Lieferengpässe bei Kinderarzneimitteln weiter zuspitzt: „Das ist eine mittelschwere Katastrophe“, sagt Dr. Nike Strobelt, Sprecherin des Kinder- und Jugendärztenetzes.
Zwar habe man bislang noch immer eine Lösung gefunden, fügt sie hinzu. „Aber das ist häufig keine gute Medizin mehr, sondern eher Schadensbegrenzung.“ Um die Kinder überhaupt behandeln zu können, müssten die Ärzte mittlerweile auf Antibiotika der zweiten oder dritten Wahl zurückgreifen und im schlimmsten Fall sogar auf Reserveantibiotika, also Mittel, die eigentlich dem Kampf gegen schwere Erkrankungen und gegen resistente Bakterien vorbehalten sind.
„Für die Apotheken vor Ort wird es immer schwieriger, Alternativen zu finden, wenn Fiebersäfte, Zäpfchen oder Antibiotika nicht lieferbar sind“, berichtet Kreisvertrauensapothekerin Angelika Plaßmann. „Immer häufiger sehen Kolleginnen und Kollegen schon keinen anderen Weg mehr, als die Eltern abends und an den Wochenenden mit ihren kranken Kinder zu den Notdiensten bzw. in die Notfallambulanzen der Kliniken zu schicken“, fügt sie hinzu. Vielfach müsse man die Patienten auch zurück zum Arzt verweisen, um neue Rezepte ausstellen zu lassen. „Das zieht enorme Folgekosten für das Gesundheitswesen nach sich, aber auch für die Volkswirtschaft, wenn Eltern am Arbeitsplatz ausfallen und sich der ohnehin in allen Branchen bestehende Personalmangel weiter verschlimmert.“
Verschärft werden die Engpässe durch bürokratische Regelungen und komplexe Vorgaben für die Abgabe der Arzneimittel. Kinderärzte und Apotheker appellieren daher an die Politik, hier dringend Lösungen vorzugeben. „Wie zu Beginn der Corona-Pandemie muss die Politik auch in dieser aktuell schwierigen Lage den Kostenträgern Vorgaben machen, damit die Apotheken ausreichend Spielräume haben, Alternativen zu finden“, sagt Jan Harbecke, AVWL-Vorstandsmitglied und Apotheker in Münster. Man brauche Beinfreiheit, um zum Beispiel flexibel auf andere Darreichungsformen, Wirkstärken, Packungsgrößen ausweichen zu können.
„Wenn Fiebersäfte aktuell nicht lieferbar sind, müssen wir zum Beispiel schnell auf Zäpfchen ausweichen können – und zwar, ohne die bereits überlasteten Arztpraxen weiter zu behelligen. Und wir müssen ohne bürokratische Auflagen Arzneimittel wie Fiebersäfte und Zäpfchen selbst herstellen können“, fordert er. Vor allem könne es nicht sein, dass jede der annähernd 100 gesetzlichen Krankenkassen eigene Regelungen finde, welche Lösungen für ihre Versicherten zulässig seien und welche formalen Vorgaben die Apotheken dafür erfüllen müssten. „Dies ist angesichts des Andrangs in den Apotheken schlicht nicht praktikabel“, kritisiert Jan Harbecke. „Die Politik muss hier schnell einheitliche Lösungen vorgeben – und sie muss Apotheken wie Arztpraxen in dieser Ausnahmesituation vor Regressen schützen“, fordert auch Dr. Nike Strobelt.
„Nach annähernd drei Jahren Pandemie sind die Teams in Arztpraxen und Apotheken am Rande ihrer Kräfte. Nun müssen sie in dieser neuen herausfordernden Situation zumindest von allen bürokratischen Hemmnissen befreit werden“, fordern Dr. Nike Strobelt, Angelika Plaßmann und Jan Harbecke.
Neben kurzfristigen Erste-Hilfe-Maßnahmen gegen die Lieferengpässe muss das Problem auch langfristig in den Griff bekommen werden:
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