Der Bundestagsabgeordnete muss warten. Denn als Henning Rehbaum (CDU) die Apotheke am Osttor in Beckum betritt, da hat Apothekerin Eva Tingelhoff endlich die Arztpraxis in der Telefonleitung. Wieder einmal gibt es einen Lieferengpass und Eva Tingelhoff muss gemeinsam mit dem Arzt eine Lösung für den Patienten finden, dessen Arzneimittel nicht verfügbar ist. Alltag in der Apotheke. „Entschuldigung, das musste ich erst klären“, erläutert Eva Tingelhoff, als sie nach einigen Minuten den Besucher endlich begrüßen kann. Dann fügt sie hinzu: „Für eine Aufwandspauschale von 60 Cent.“
Henning Rehbaum, CDU-Bundestagsabgeordneter im Kreis Warendorf, ist an diesem Tag in die Apotheke gekommen, um sich ein Bild von den aktuellen Problemen in der Arzneimittelversorgung zu machen – und von den Sorgen der Mitarbeiter. So hatte sich Svenja Schreiber, angestellte Apothekerin, in einem Brandbrief, den sie während eines Notdienstes verfasst hatte, an den Abgeordneten gewendet. Denn das Bundesgesundheitsministerium plant eine Apothekenreform – mit gravierenden Folgen für die Apothekenteams und die Patienten, wie Eva Tingelhoff befürchtet. Zum Beispiel für diejenigen, die während des Besuches von Henning Rehbaum in die Osttor-Apotheke kommen, um ein Betäubungsmittel abzuholen, welches ihnen der Arzt verordnet hat. Betäubungsmittel werden zum Beispiel bei starken Schmerzen angewendet. Aber auch Präparate, mit denen eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) behandelt wird, fallen unter das Betäubungsmittelgesetz.
Künftig aber können diese Mittel nur noch sehr eingeschränkt in den Apotheken abgegeben werden. Denn das Bundesgesundheitsministerium will mit seiner Reform Apotheken ohne Apotheker schaffen. Nur noch wenige Stunden pro Woche soll ein Pharmazeut in der Apotheke anwesend sein müssen. Ohne Apotheker aber ist die Versorgung der Patienten mit Betäubungsmitteln nicht möglich. „Wie soll das künftig gehen?“, fragt Eva Tingelhoff den Bundestagsabgeordneten. „Sollen wir Schmerzpatienten nur noch einmal pro Woche, wenn der Apotheker gerade einmal anwesend ist, helfen dürfen und dafür Termine vergeben?“
Auch Impfungen könnten ohne Apotheker in der Apotheke nicht verabreicht werden, keine individuellen Rezepturen wie Salben und Cremes hergestellt und keine umfassenden Medikationsberatungen durchgeführt werden, nennt Eva Tingelhoff weitere Beispiele, wie sich die Versorgung der Menschen durch das Gesetz verschlechtern wird. „Für die Patienten ist der vertraute Apotheker oft der erste Ansprechpartner bei akuten Beschwerden. Ein Patient mit Beratungsbedarf kann montags nicht darauf warten, dass der Apotheker am Donnerstag vorbeischaut!“, so Henning Rehbaum „Der lokale Apotheker kennt den Patienten und ist kompetenter Ansprechpartner auf Augenhöhe mit der Ärztin oder dem Arzt, wenn es darum geht, das richtige Medikament für Patienten zu ermitteln.“
Mit der Reformidee wolle das Bundesgesundheitsministerium die Apotheker wegsparen – statt den kleinen Unternehmen endlich einen Inflationsausgleich zuzugestehen, kritisiert Tingelhoff. Die Vergütung der Apotheken sei staatlich reglementiert und seit 20 Jahren de facto nicht mehr erhöht worden. Zehn Prozent der Apotheken seien mittlerweile defizitär, weitere 15 Prozent wirtschaftlich stark gefährdet. Die Welle der Apothekenschließungen habe rasant an Fahrt aufgenommen. Apotheker seien nicht reich und Apotheken nicht teuer: Sie machten 1,9 Prozent der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen aus – nicht einmal halb so viel, wie die Kassen für ihre eigene Verwaltung aufbringen würden. Zudem wolle das Bundesgesundheitsministerium mit seiner Reform nicht nur die Apotheker einsparen, sondern Honorar zwischen großen vermeintlich gutverdienenden und kleinen ärmeren Apotheken umverteilen, berichtet Tingelhoff. „Es gibt aber Berechnungen, dass kleine Apotheken durch diese Umverteilung nur in Höhe eines niedrigen vierstelligen Betrages jährlich profitieren – bei weiter steigenden Kosten. Damit ist keine kleine Apotheke zu retten, dafür geraten weitere Betriebe in Schieflage. Die Situation wird also noch verschärft. Eine Umverteilung hilft nicht; nach 20 Jahren ohne Honoraranpassung ist mittlerweile schlicht zu wenig Geld im System.“ Zumal diese Umverteilung dazu führen werde, dass viele Apotheken die Vorfinanzierungskosten für innovative hochpreisige Arzneimittel nicht mehr tragen könnten.
Tingelhoff rechnet dem Bundestagsabgeordneten genau vor, wie viel sie pro verschreibungspflichtiger Arzneimittelpackung einnimmt, wie viel pro selbst gefertigter Rezeptur und wie viel sie für einen Botendienst erhält. „Es kann nicht sein, dass ein Tierarzt für die Fahrt zum Bauernhof per Verordnung der Ampel 34,50 Euro plus Wegegeld bekommt und die Apotheke schlappe 2,50 Euro plus Mehrwertsteuer für eine Fahrt zum Patienten“, kommentiert Henning Rehbaum das Vergütungssystem. Er fordert daher: „Sowohl Botenfahrten als auch das Vergütungsfixum pro Packung müssen in Zeiten hoher Kostensteigerungen fair angepasst werden.“
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